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E. Die Fischin im roten Wasser

 

Im Wasser des Bachs trieb in roten Schlieren Blut. Merana konnte es nicht trinken. Aber sie spritzte es sich ins Gesicht und schöpfte es mit den Händen ab, um einen Schwall davon über ihren Vater zu schütten. Blut ist Kraft. Deshalb brennt es so heiß auf meiner Haut. Von manchen Tieren reicht ein Tropfen, andere müssen um der Göttin Willen ihr Leben aushauchen. So hatte es Urla gelehrt und die Schamanin selbst wusste es von der Stimme aus dem Jenseits.

„Gahet Brila Arriet“, rezitierte Merana die Alte Sprache. „Geh ins Licht der Göttin“, wiederholte sie und schüttete noch mehr Wasser über ihren Vater. Auch auf seinem reglosen Gesicht zeichneten sich nun rote Linien ab, genau wie auf ihrem.

Sie atmete tief durch. Sie hatte weder die Muskelkraft noch die Werkzeuge, ihn zu begraben. Die Göttin würde das verstehen – sie musste das verstehen. Also trug Merana Laub herbei und deckte ihn damit zu. Der Geruch von Rauch stieg ihr in die Nase. Vielleicht sengte das Blut aus dem Fluss die untersten Blattschichten an. Vielleicht verwandelte es ihren Vater und machte ihn zu Licht.

„Du wirst gerächt werden“, sagte sie ihm mit brennenden Augen. „Göttin“, Merana holte tief Luft, „ich werde meinen Vater rächen und ich werde meinen Stamm zurückerobern. Ich werde Häuptling werden so wie er.“ Obwohl ich nur eine schwache junge Frau bin. Das sagte sie nicht. Merana biss sich auf die Zunge. Frauen wurden vielleicht Schamaninnen, ein paar auch Jägerinnen, aber wer hätte schon einmal von einem weiblichen Häuptling gehört? Wie sollte eine Frau die Kämpfe gegen männlichen Konkurrenten, die aussahen wie Moko der Baum, bestehen? Vor allem, wenn sie ohnehin ihr halbes Leben schwanger waren. Obwohl da bei Merana ja keine Gefahr bestand, ohne Gefährten. Trotzdem. Unschwanger zu sein machte sie noch lange nicht waffenfähig.

„Also, wie?“

So wie der Todpflücker. Der Gedanke war plötzlich und unwillkommen. Merana stieß einen Schrei aus. Verfluchter Gundoran. Ja, er hatte bewiesen, dass es möglich war. Wenn er das konnte, dann eine schwache junge Frau erst recht. Sie würde ihn besiegen, so wie er ihren Vater besiegt hatte. Oder anders. Aber am Ende würde sie Häuptling sein und seinen Leichnam für die Aasfresser in der Wildnis liegen lassen.

Merana rieb sich die Augen. Geisterfinger drückten ihren Hals zusammen, sodass er schmerzte. Sie stieß ein Schluchzen aus und tauchte die Hände erneut in die Wellen des roten Bachs. Funken prickelten auf ihrer Haut.

Ein leuchtender Fisch schoss an ihr vorbei. Ein mickriges Ding mit bläulichen Schuppen. Seltsam, ihn tagsüber zu sehen. Er schwamm gegen die Strömung nach Norden. Das Blut im Wasser schien ihn genauso wenig zu kümmern wie Merana. Oder kümmerte es sie doch?

Merana richtete sich auf. Woher kam das Blut in den Bächen? Urla hatte gesagt, es sei ein Zeichen der Göttin. Aber auch die Göttin musste es irgendwoher haben. Vermutlich aus den Körpern ihrer Feinde. Merana nickte. Ja, das war zumindest schon einmal ein Anfang. Sie warf einen letzten Blick auf den Laubhügel, unter dem ihr Vater lag. Nein, nicht ihr Vater. Er war gegangen. Zu ihrer Mutter und zur Göttin. Meranas Blick verschwamm. Sie biss sich auf die Unterlippe, hievte sein Beil in die Höhe und folgte dem Verlauf des Bachs.

Der Bach schlängelte sich durch Felsen und Hügel. Merana balancierte auf Steinen, die vor Moos und Feuchtigkeit glitschig waren. Und rot. Alles so rot hier.

An einer breiteren Stelle hatte jemand ein Seil gespannt. Wie praktisch. Merana kletterte die Leiter zu einem hölzernen Podest hinauf, griff mit beiden Händen nach dem vorgesehenen Ledergurt am Seil, schob noch das Beil hindurch und nahm Anlauf. Der Schwung trug sie über das Wasser und darüber hinaus. Sie landete im Laub. Lichter tanzten durch ihr

Sichtfeld. Zwischen flirrenden gelben Blättern schwebten Wolken, weißer als die Welt.

Einige Augenblicke blieb sie liegen. Ihre Stirn pochte und ihr Körper schmerzte. In ihrem Gesicht brannte lichtloses Feuer. Das Beil war neben ihr gelandet und hatte ihr eine Haarsträhne abgehackt, aber zum Glück nicht mehr. Sie kroch zum Bach und spritzte sich frisches Blutwasser auf die Haut, doch der Schmerz wurde nur noch schlimmer. Merana schrie vor Hitze auf. Ein leuchtender Fisch hüpfte zu ihr ans Ufer.

„Das ist Magie, mein Kind“, sagte er – nein sie – zu ihr. Dann sprang sie zurück ins Wasser und schoss davon.

„Was ist Magie?“, krächzte Merana und bemerkte, dass der Fisch ... die Fischin! Sie hatte die Alte Sprache gesprochen. Nur für das Wort Magie kannte Merana keine Übersetzung.

Inmitten der Wellen sah sie ihr rotes Abbild. Wütend teilte sich ihr Gesicht, immer wieder.

So heiß. Merana rappelte sich in die Höhe. Um sie herum standen hüfthoch Statuen. Es war mindestens ein Dutzend, aus Baumstümpfen herausgeschnitzt. Die Augen des Wolfs folgten ihr. Die des Fuchses auch. Aber die Augen des Fisches leuchteten wie Feuersglut.

Sie zerrte ihr Beil hoch und schulterte es. Dann lief sie los. Doch ihre Schritte waren schwer und langsam. Ihr Atem rauschte viel zu laut in ihrem Kopf.

Wasser. Nachdem sie den heiligen Ort der Tiergötter verlassen hatte, kehrte sie wieder ans Ufer zurück. Aus dem Bach war ein richtiger Fluss geworden, doch von seiner Färbung hatte er nichts eingebüßt. Im Gegenteil. Er leuchtete wie die Abendsonne.

Gute Güte, ihr Wasserschlauch war schon lange leer. Sie hatte seit gestern weder gegessen noch getrunken. Und wer hatte eigentlich behauptet, dass das Blutwasser giftig wäre? Reine Spekulation. Merana formte mit den Händen eine Schale und schöpfte gierig aus den Wellen. Sie schmeckten nach schwarzem Stein und nach Weltuntergang. Die Flüssigkeit zuckte

durch ihren Körper wie eine zornige Schlange und tobte in ihrem Magen. Bisse von giftigen Fängen. Wie soll eine schwache junge Frau das aushalten? Merana stand wacklig auf beiden Beinen. Wo ist mein Beil? Ohne das verdammte Ding würde sie viel schneller vorankommen. Aber es hatte ihrem Vater gehört und eines Tages würde sie es schwingen. Und den Schädel Fullo Todpflückers damit spalten.

In der Dämmerung fand Merana Brombeeren und schob sie sich in den Mund. Ihr Magen drehte sich seit einer Weile und zuckte nun protestierend. Hunger? Oder die Krämpfe, die das Bluten ankündigten, unter dem sie jeden Mond litt? Oh, bitte das nicht. Als hätte sie nicht schon genug Schmerzen. Merana kniff die Augen zusammen und blinzelte wild die Tränen weg.

Um sie herum glühte der Wald im Licht der Sonne, als würde er brennen. Es war genau das richtige Licht. Merana war nicht müde. Sie würde heute kein Lager aufschlagen, sondern weiter dem Fluss folgen. Egal, wohin er sie führte. Das war ihr Weg. Sein rotes Wasser grub Stacheln in ihr Fleisch, doch es hielt sie auch lebendig. Auch später noch, als die Nacht hereingebrochen war.

Die Dunkelheit war selten so vollkommen wie heute. Das Wasser des Flusses war leer. Fischlos. Oder zumindest nur von Tieren bevölkert, die nicht leuchten konnten. Konnten Menschen eigentlich leuchten? Merana hob ihre Hand vor die Augen. Ein paar matte Sprengsel pulsierten auf ihrer Haut. Das war neu. Merana lachte auf. Sie warf ihr Gepäck davon, zog sich aus und platschte in den Fluss. Die Strömung zerrte an ihr, doch sie spürte noch schlammigen Boden unter den Zehen und schlang die Arme um einen glitschigen Felsen.

Es sollte kalt sein. Manchmal war es das auch. Doch dann trieben Wirbel von Hitze heran und brannten Merana ihr Mal auf den Körper. Als sie blinzelte, schwamm sie im Licht. Es trieb in bunten Fetzen überall um sie herum. Merana öffnete staunend die Lippen und ließ zu, dass Wasser in ihren Mund drang.

Leuchtendes Schlangenwasser. Das war richtig für sie. „Kennst du die Nebel, mein Kind?“ Merana zuckte zusammen. Ihre Hände glitten von ihrem Felsen

herunter und sie trieb ein Stück flussabwärts. Keuchend kämpfte sie sich zurück.

Die Stimme der Fischin sprach wieder zu ihr. Merana suchte sie, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. Sollten ihre Schuppen nicht aus Helligkeit bestehen?

„Wo bist du?“, rief Merana.

Eine Weile antwortete ihr niemand. Das Wasser verlor seinen Glanz und rauschte auf einmal kalt. Merana kroch ans Ufer und tastete blind nach ihren Sachen.

Dabei könnte so einfach der Morgen aus deinem Herzen bersten.

„Ich brauche den Morgen nicht“, sagte Merana. Das Klappern ihrer Zähne brach ihre Worte.

Möchtest du lieber die Finsternis besitzen?

„Kommt drauf an.“ Merana schlüpfte in ihr Gewand und zog ihren Gürtel zusammen. „Welche Wahl würde der Todpflücker treffen? Ich nehme das andere.“

Vielleicht solltest du dasselbe nehmen.

Merana zischte und schloss einen Moment die Augen. Sie legte ihren Pelz um die Schultern. Ihr nasses Haar klebte an ihrem Kopf wie angefroren.

„Göttin, hilf mir, meinen Vater zu rächen. Mach mich stark genug dafür“, flüsterte sie in die Nacht hinein.

Nach körperlicher Stärke brauchst du nicht zu suchen. Sie würde dich nicht retten.

Wo ist mein Beil? „Aber mir bei meiner Rache helfen.“

Anderes hilft dir viel besser.

Keuchend schulterte Merana erneut die Waffe ihres Vaters. „Du meinst, geistige Stärke? Göttin, besitze ich die nicht längst?“

Magie besitzt du nicht. Diese liegt bei mir.
Wieder dieses Wort. Die Göttin spricht die Alte Sprache.

Natürlich, was sonst? Auch die Fischin spricht sie. Die Göttin ist die Fischin. Die Fischin ist die Göttin. Die Göttin ist, wer immer sie will.

„Dann lass mich zu dir kommen“, stieß Merana hervor.

Hinein in die Sümpfe. In den großen Nebel. Dort warte ich. Dort ist mein Licht.

„Licht.“ Das Wort glitt wie ein Fauchen über Meranas Zunge. Das Beil rutschte aus ihren schweißnassen Fingern und grub sich in den Waldboden. Merana fiel auf die Knie.

„Ich wähle den Morgen“, sagte sie matt, doch die Göttin antwortete ihr nicht mehr.

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