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G. As'Saifs Gnade


Herr, reicht das nicht?« As’Saif trat an Vladr heran, der immer noch die Peitsche schwang. »Sie merkt doch schon längst nichts mehr.«
Das Mädchen hatte schon nach dem zweiten Schlag das Bewusstsein verloren. As’Saif hatte in seinem Leben schon viele schlimmere Auspeitschungen gesehen, die Kutscherpeitsche war sowieso nicht dafür gemacht, Schmerzen zu erzeugen, aber das Mädchen hatte schon vor dem ersten Schlag ausgesehen, als ob sie gleich ohnmächtig werden würde.
Schnaubend wandte sich der Shor ab. »Zu dir komme ich gleich noch, As’Saif.«
Er warf die Peitsche weg und ging hinüber zu der Stelle, wo er sich seiner Kleidung entledigt hatte.
»Sammelt euch hier, Männer!«, rief As’Saif in seiner Muttersprache. Die Männer kamen alle zusammen. Ihre langen Gewänder waren allesamt schwer vom Wasser, durch das sie bei der Verfolgung gestürmt waren. Auch As’Saif war nass, und er fror bitterlich in der kühlen Frühlingsluft. Wieso das Mädchen trotz ihrer Nacktheit noch nicht erfroren war, war ihm ein Rätsel. Ihre Haut war immer wärmer als seine, selbst wenn sie nass war. Nie schien sie zu frieren.
»Es tut mir leid, Männer«, sagte As’Saif. »Ich habe als Bewacher versagt. Dank eurer schnellen Reaktion konnten wir diesen Fluchtversuch noch abwenden, doch unser Herr wird mich nicht ungestraft lassen. Ganz gleich, was die Strafe ist, verhaltet euch ruhig. Wir haben einen Auftrag, und der muss erfüllt werden. Sollte ich nicht mehr in der Lage sein, euch zu führen oder … tot, so führt euch Sadak weiter.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, kam Vladr auch schon zurück. Er war jetzt wieder angezogen, nur seine Rüstung hatte er zurückgelassen. As’Saif kombinierte blitzschnell, was das zu bedeuten hatte. Vladr behielt sich damit eine weitere Wandlung in seine schreckliche Wolfsgestalt vor. Dass ausgewählte Krieger der Shor sich in Bestien verwandeln konnten, davon hatte As’Saif einmal gerüchteweise gehört. Nun wusste er, dass es wahr war und außerdem viel schlimmer, als die Gerüchte es erzählten. Vor über einer Woche hatte Vladr ihn verunsichert, als er gedroht hatte, notfalls alle seine Männer im Alleingang zu töten. Jetzt musste As’Saif zugeben, dass er das auch nicht mehr ganz so abwegig fand. Mit Spießen mochte man einem solchen Monster wohl noch beikommen können, aber eine unvorbereitete Truppe wäre dieser Bestie gegenüber vermutlich im Nachteil. Sie hatten auch Speere dabei, vier an der Zahl, gut verstaut im letzten Wagen. Unvorbereitet …
»Was war das eben?«, fragte Vladr. »Ich dachte, wir hätten vereinbart, dass du sie unter Kontrolle hältst?«
»Ja, Herr«, murmelte der alte Krieger. »Doch sie ist wohl gerissener, als sie uns hat glauben lassen, und schneller, als ich jemals gedacht hätte.«
»Sie ist ja auch eine Kriegerschülerin!«, herrschte Vladr As’Saif an, der unter seinem zornigen Blick zusammenschrumpfte. »Gerissenheit wurde ihr in die Wiege gelegt! Ich habe euch beobachtet. Du hast dich von ihr manipulieren lassen! Von einem gefesselten, schwachen Kind!«
»Es wird sich nicht wiederholen«, versicherte As’Saif. »Bitte verzeiht mir mein Versagen dieses Mal und nehmt zur Kenntnis, dass meine Männer mit ihrer schnellen und guten Reaktion ihr Entkommen verhindert hätten. Selbst ohne Euer Einschreiten wäre sie nicht entkommen. Ich habe einige gute Jäger dabei, die man nicht einfach abhängt.«
»Ist das so?«, fragte Vladr kalt. »Wer ist dein bester Jäger?«
As’Saif wies mit einer kleinen Verbeugung auf seinen zweiten Mann. »Sadak, Herr. Ein exzellenter Jäger.«
Vladr winkte Sadak herbei. »Glaubst du, du hättest sie gefangen?«, fragte er.
Sadak war ein professioneller Söldner. Ohne eine Miene zu verziehen, blickte er hinüber zu dem Mädchen und dann direkt in Vladrs Gesicht. »Zweifellos, ja«, sagte er. »Habe schon schwierigere Ziele erfolgreich gejagt.«
Vladr musterte ihn eine Weile. »Gut«, sagte er dann.
Nur einen Lidschlag später schoss Vladrs Hand nach oben. Mit Sadaks eigenem Messer schlitzte er dem Mann die Kehle auf. Sadaks Augen weiteten sich überrascht, während sein Blut sich in Strömen über Vladr und den Boden vor ihm ergoss.
Vladr trat zurück und zog sein langes, nach vorne gekrümmtes Schwert.
As’Saif war genauso geschockt wie seine Männer. Sadak sackte in sich zusammen, während um ihn herum Schwerter blankgezogen wurden.
»Nein!«, rief As’Saif laut in der Sprache seiner Mutter und trat mitten in den Tumult seiner Männer. »Steckt die Waffen weg!«
»Warum?«, schrie Ahal aufgebracht. »Er hat Sadak gemordet!«
»Ja, wir müssen ihn rächen!«, rief Murat.
»Er ist unser Herr!«, rief As’Saif. »Er ist unser Gesetz.« Und ein schreckliches Ungeheuer, das mindestens die Hälfe von uns tötet, wenn wir ihn jetzt direkt angreifen, fügte er in Gedanken hinzu.
»Hat dir Sadak denn nichts bedeutet?«, rief Ahal anklagend.
»Natürlich hat er das!«, entgegnete As’Saif heftig. »Deswegen müsst ihr einhalten! Ihr werdet nur enden wie Sadak!«
»Das glaube ich kaum«, sagte Murat. »Wir werden diesen Köter aufspießen, häuten und verbrennen.«
»Seid ihr blind?«, brüllte As’Saif. »Ihr werdet als Krähenfutter enden. Vergesst nicht unseren Vertrag! Wir garantieren Vladr unseren Schutz! Kein Dhash wird angeheuert, wenn der letzte Auftraggeber nicht sicher zurückkehrt!«
Einige seiner Männer zögerten mittlerweile, nur noch wenige schienen so aufgebracht, dass sie es tatsächlich auf einen Kampf ankommen lassen würden.
»Du zeigst mir später den Vertrag«, sagte Murat. »Sehe ich dort auch nur eine Lücke, töten wir diese Missgeburt auf der Stelle. Ansonsten tue ich es, sobald der Vertrag ausläuft.«
»Das werde ich«, versprach As’Saif und hoffte, damit einen Kampf zunächst abgewendet zu haben. »Was nach dem Ende des Vertrags sein mag, ist natürlich euch überlassen.«
Noch immer vor Wut kochend steckte Murat sein Schwert zurück, etwas zögerlich tat auch Ahal es ihm nach und schließlich auch die anderen Männer. Mehr als einer spuckte vor As’Saif auf den Boden. Er ließ es ihnen durchgehen, auch wenn er schon Söldner wegen weniger Ungehorsam gehängt hatte. Er selbst war auch aufgebracht, denn um ein Haar hätte er selbst die Waffe gegen seinen Auftraggeber erhoben, ein Gedanke, der ihm seit Jahrzehnten als Dhash noch nie durch den Kopf geschossen war.
Vladr hatte immer noch sein Schwert angriffsbereit gezogen. Er senkte es erst, als alle Söldner sich wieder in Bewegung setzten. As’Saif wusste nicht, ob Vladr seine Sprache verstand, doch selbst wenn nicht, es war offensichtlich, worüber sie gestritten hatten.
»Dein Pflichtgefühl ist bemerkenswert, As’Saif«, sagte er. »Sei genauso pflichtbewusst bei der Bewachung der Gefangenen, und so etwas muss sich nicht wiederholen.«
Er deutete auf das bewusstlose Mädchen. »Kein Essen für sie, für mindestens sieben Tage. Danach entscheide ich, ob sie geschwächt genug ist, dass sie nicht mehr fliehen kann. Sollte ich dich erwischen, wie du ihr doch etwas zusteckst, stecke ich dem Jüngsten deiner Männer ein Schwert zu, und zwar durch den Mund.«
Immer noch vor Anspannung zitternd wandte sich As’Saif dem Mädchen zu. Wo die Peitsche sie besonders heftig getroffen hatte, war ihre Haut aufgeplatzt, und Blut lief an ihr herunter. An vielen anderen Stellen waren es jedoch nur dicke rote Striemen. Offensichtlich hatte sie sich erbrochen, nachdem sie bewusstlos geworden war. As’Saif seufzte. Mit ein bisschen Glück war sie bereits an ihrem Erbrochenen erstickt. Mit einem Eimer ging er zum Bach, füllte ihn und schüttete etwas davon über das Mädchen. Dann beobachtete er ihre Brust. Er wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte, als er sah, wie sie sich hob, als das Mädchen einatmete. Wenn sie jetzt gestorben wäre, nachdem Vladr sie ausgepeitscht hatte, wäre As’Saif ohne Strafe davongekommen.
Da kam ihm eine Idee. Nervös sah er sich um. Vladr war nicht zu sehen. Mit der rechten Hand fasste er an den Eimer und tat so, als würde er für sie noch ein wenig Wasser schöpfen. Dann hob er die linke Hand und hielt dem Mädchen damit Mund und Nase zu. Es war eine Gnade. Was Vladr mit ihr anstellen würde, wenn er mit ihr allein war, mochte As’Saif sich gar nicht vorstellen. Er zählte still nach oben. Er hatte bisher noch nie eine Frau getötet, geschweige denn ein Mädchen. Auch hatte er es noch nie so sanft getan. Als er bis sechzig gezählt hatte, wölbte sich ihr Bauch heftig und die Brust zog sich zusammen beim Versuch, schnappend einzuatmen. As’Saif hatte das schon mehrmals gesehen bei Menschen, die an ihrem eigenen Blut erstickt waren, allerdings niemals so geräuschlos wie hier bei ihr. Bei siebenundsechzig zuckte sie erneut und auch bei zweiundsiebzig.
»Gleich hast du es geschafft«, murmelte er.

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