FANTASY CHAPTER CHALLENGE

F. Zweiundsechzig
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„Moment“, bat der Wärter. Er zog seinen Handschuh aus und zischte ein Wort wie eine Schlange. Auf seiner Handfläche erschienen violette Linien, als hätte eine Spinne farbige Fäden über seine Hand gezogen. Er legte sie an die Wand und drehte plötzlich fünf Steinreihen nach rechts wie eine Drehscheibe. Es klackte einmal wie bei einem Tresor.
Danach wich der Wärter einen Schritt zurück.
„Ich bleibe hier, wenn Sie etwas brauchen.“
„Vielen Dank.“
Ikuran trat hervor. Noch einmal atmete er durch. Es war eine Ewigkeit her, seit er das letzte Mal diese Zelle betreten hatte. Hoffentlich würde es dieses Mal anders sein.
Sanft legte er seine Hand auf die Wand und schloss die Augen.
Es blitzte einmal.
Langsam öffnete er seine Augen wieder.
Weiß, alles nur weiß, als hätte nie irgendeine Form existiert. Ikuran blinzelte einige Male, um sich an das unendliche Nichts zu gewöhnen. Weit und breit war nichts zu sehen, egal wie sehr er seine Augen verengte. Es war nicht mal so was wie ein Horizont in der Ferne zu erkennen, oder zumindest vermochten selbst seine feinen Elbenaugen ihn nicht wahrzunehmen.
Nur ein Bett und ein Tisch mit zwei Stühlen waren in dem unendlichen Nichts zu finden. Es war, als hätte jemand die Leinwand gestohlen und dabei die letzten Requisiten vergessen. Eine ulkige Vorstellung, wie Ikuran fand. Allerdings war diese Zelle alles andere als witzig.
Hier in dem weißen Nichts existierte weder Zeit noch Raum.
Ironischerweise wurde diese Zelle nicht gebaut, sondern vor Jahren von den Okoros entdeckt. Genau genommen war es eine andere Dimension, eine andere Ebene der Existenz, über die nichts bekannt war. Es gab Tausende von Spekulationen über die sogenannte leere Zone, eine abenteuerlicher als die andere. Einige meinten, es wäre das Reich des Namenlosen, wieder andere glaubten, es war mal eine lebendige Dimension, bis eine größere Macht über sie herfiel und sogar Raum und Zeit stahl.
Was diese Dimension auch immer war, es war perfekt, um Zweiundsechzig festzuhalten.
„Du kannst mich mal!“, echote es plötzlich, als hätte ein Drache einen Hustenanfall. „Nein, du kannst mich mal, du dämlicher Lampenschirm!“
Ikuran drehte sich um. Da erschien auch schon eine schlanke Gestalt. Ihre zimtbraunen Haare waren zerzaust, als hätte sie stundenlang mit sich selbst gekämpft, ihre moosgrünen Augen besaßen schon Ringe wie bei einer Schlafwandlerin, aber dennoch besaß sie immer noch dieselbe jugendliche Schönheit wie damals. Ihre weichen Züge, ihre geschmeidigen Rundungen waren immer noch so prachtvoll wie in den blutigen Kriegstagen. Allerdings trug sie keinen seidigen Mantel mit eleganter Schwarzrüstung mehr, sondern steckte in einem schwarzen Overall mit einer weißen Nummer darauf.
„Ach halt die Schnauze!“, schrie die Gefangene ihre imaginäre Gesprächspartnerin an. „Was weißt du denn schon? Die beste Methode, um an einen anderen Ort zu kommen, ist den Raum zu krümmen. Und dafür braucht man ...“
„Was braucht man?“, unterbrach sich die Frau selbst. „Glaubst du, ich weiß nicht, was man dafür braucht?“ Für einen Moment stockte die Gefangene. „Scheiße, ich habe weiß gesagt. Weiß, weiß, weiß. Ich HASSE weiß! Diese verfickte WEIẞE Zelle!“
„Hey, Zweiundsechzig!“, rief Ikuran.
Die Gefangene erstarrte, als wäre sie vom Blitz getroffen worden. Langsam drehte sich die Zerzauste um und hob misstrauisch eine Augenbraue. Ihr Blick wirkte wie der einer Frau, die wochenlang durch eine Wüste gewandert und völlig dehydriert war. Sicherlich fragte sie sich, ob Ikuran echt war oder nur eine Einbildung.
Als würde sie schlafwandeln ging sie auf die vermeintliche Halluzination zu. Nur eine halbe Nasenlänge entfernt blieb die Namenlose vor dem Elbenmeister stehen. Sie streckte ihren Finger aus, als wollte sie auf etwas zeigen, und stupste dann gegen Ikurans Schulter.
„Ich bin echt“, versicherte Ikuran tonlos.
Vorsichtshalber stupste die Misstrauische noch mal.
„Würden Sie das bitte lassen.“
„Oh, Verzeihung“, erwiderte die Gefangene frech, „es ist nur so, dass in diesem verfluchten Nichts immer wieder Leute auftauchen, die behaupten, echt zu sein, und dann waren sie es doch nicht. Nach einer Weile fängt man an, Gespenster zu sehen.“
„Nur keine Sorge“, versicherte Ikuran betont, „ich werde Sie bald wieder mit Ihren Geistern alleine lassen.“
„Oh, bitte nicht“, erwiderte die Gefangene anzüglich, „ich bekomme nicht oft Besuch. Hier in dem Nichts wird einem sehr schnell langweilig.“ Sie trat näher heran und zwinkerte verführerisch. Als sie bemerkte, dass Ikuran auf die Flirtversuche nicht ansprang, verzog sie wie ein trotziger Teenager das Gesicht, rollte die Augen und motzte: „Ihr Elben seid echte Spaßbremsen. Ich meine, wie ist das bei Elben denn? Habt ihr überhaupt Spaß, wenn ihr fickt, oder legt ihr euch einfach nur aufeinander wie gelangweilte Kühe und macht einfach ein paarmal rein und raus wie Maschinen?“ „Weder habe ich die Zeit noch die Lust für Ihre Albernheiten“, stellte Ikuran klar. „Ich habe einige Fragen an Sie.“
„Und warum zum Fick sollte ich sie beantworten?“, fauchte die wandelnde Nummer und stiefelte davon.
Ikuran machte eine Handbewegung. Als hätte man beim Theater die Bühnenwand gewechselt, verwandelte sich das ewige Weiß in ein buntes Blumenmeer, das an hohe, mit Schnee bedeckte Berge mündete. Wie ein kleines Kind betrachtete Zweiundsechzig mit großen Augen die neu erschaffene Welt um sich herum.
In der nächsten Sekunde verflog allerdings das Bühnenbild und alles war wieder weiß.
„Es liegt an Ihnen, wie Ihre Zelle künftig aussehen soll“, stellte Ikuran klar, „denn ich hatte den Eindruck, dass Sie das ewige Weiß leid sind.“
„Das ist eine Untertreibung“, zischte die Gefangene und trottete hinüber zum Tisch. Träge wie eine alte Frau setzte sie sich hin, Ikuran setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
„Also gut, da Sie nicht hergekommen sind, um mit mir zu ficken, vermute ich mal eher, es geht um die Portalringe, oder?“, fing die Gefangene trocken an.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Halten Sie mich nicht für bescheuert“, fauchte die Namenlose. „Ich bin schließlich die letzte Separatistin aus den Portalkriegen. Sie selbst haben mich deswegen in diese verfluchte Dimension eingesperrt, damit ich bloß keine Portale erzeugen kann, um abzuhauen.“
„Nun, um Portale zu erzeugen, muss man Raum und Zeit krümmen. Da beides in dieser Zelle nicht vorhanden ist, können Sie es auch nicht krümmen.“
Nicht nur das. Alleine der Tatsache, dass keine Zeit in diesem leeren Raum existierte, war es zu verdanken, dass Zweiundsechzig nach über zweihundert Jahren immer noch so aussah, als wäre sie gerade Ende zwanzig. Das war wirklich unheimlich.
„Sie Trottel wissen aber schon, dass ich dafür einen Portalring bräuchte, um das zu bewerkstelligen, oder?“
„Man kann ja nie wissen“, konterte Ikuran unbeeindruckt. „Es hat schon Zauberer gegeben, die haben Erstaunlicheres geschafft.“
„Genug mit dem Plausch“, zischte die Gefangene ungeduldig. „Was wollen Sie?“
Ikuran holte einen der gefälschten Portalringe heraus. Die Gefangene weitete ihre Augen bei dem Anblick. Doch ihre Lider senkten sich wieder, als ihr offenbar klar wurde, dass es kein echter Ring war.
„Ich wusste es“, erwiderte Ikuran und steckte den Ring wieder ein.
„Was wissen Sie?“
„Jemandem ist es gelungen, die Portalringe in der Verbotenen Kammer gegen Fälschungen auszutauschen. Um aber diese Ringe so meisterhaft fälschen zu können, dass selbst ein Meister es nicht sofort auf den ersten Blick erkennt, muss man genau wissen, wie diese Ringe gebaut sind.“
„Und ich bin die letzte Separatistin“, fügte Zweiundsechzig den letzten Satz hinzu. „Nur meine Wenigkeit kann es wissen, wollen Sie damit sagen.“
„Allerdings.“ Ikuran lehnte sich an den Tisch und beugte sich nach vorne. „Derjenige, der die Ringe gefälscht hat oder dazu den Auftrag gegeben hat, muss vorher bei Ihnen gewesen sein. Und Sie haben es demjenigen erzählt.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, erwiderte die Namenlose träge und lehnte sich zurück. „Selbst wenn, warum sollte ich es Ihnen erzählen? Glauben Sie, Sie bekommen mich mit einem Blumenmeer rum? Da müssten Sie schon mehr liefern, wenn Sie mich flachlegen wollen.“
„Sie werden nicht freigelassen.“
„Das habe ich mir schon gedacht“, schoss die Gefangene beleidigt zurück. „Aber ich will nicht für meine Ewigkeit Blumen anstarren. Wenn Sie schon so eine Show abliefern, dann soll sich meine Umgebung immer verändern, auch Tag und Nacht, damit man wenigstens wieder ein Gefühl von Zeit bekommt.“ Und ehe Ikuran darauf erwidern konnte, fügte Zweiundsechzig hinzu: „Und ich will einen Gefährten.“
„Einen was?“
„Einen Gefährten“, betonte Zweiundsechzig und lächelte anzüglich. „Wissen Sie, was ich am meisten vermisse in diesem verfluchten Nichts? Richtig, Sex.“
„Glauben Sie tatsächlich, ich sperre jemanden hier bei Ihnen ein?“
„Nein, bloß nicht“, konterte die erregte Frau. „Ihr Elben seid mir auch zu verklemmt. Nein, ich dachte da eher an einen Zauberer. Sie wissen schon, einen Bonus zum Gesamtpaket mit dem Hintergrundbild. Aber er sollte nicht so ein hirnloser Affe sein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Obwohl ...“ Zweiundsechzig rieb sich am Kinn. „... ich glaube, ich hätte gerne zwei Gefährten. Einen Mann und eine Frau. Auf diese Weise habe ich viel Abwechslung.“
„Ja, ich verstehe“, seufzte Ikuran. Immer dasselbe mit den Menschen, dachte sich der alte Elb. Wenn sie nicht ans Töten oder Essen dachten, war für sie Sex das entscheidende Thema. Man möchte meinen, die Menschen reden andauernd davon aus Furcht, der Planet würde sich nicht mehr weiterdrehen, sollten sie mit dieser Nebensache aufhören.
„Na schön, einverstanden“, lenkte Ikuran ein. „Die Abmachung ist aber hinfällig, wenn das, was Sie mir erzählen, nichts wert ist.“
„Das wage ich zu bezweifeln.“
„Also, wer hat Sie aufgesucht?“
Zweiundsechzig lächelte anzüglich.
„Naja, sie hat nicht ihren Namen gesagt“, betonte die Befragte überheblich.