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C. Der Nebel

 

Eula trieb Merafine und Joshwa zur Eile an. Immer wieder sah sie sich besorgt um. Sie hatten das Ufer des Sees verlassen und liefen weiter nach Norden, einen Hang bergauf. Vor ihnen türmten sich Felsen auf, nebelverhangen. Der Nebel war ein Segen. Er würde das Urteilsvermögen der Verfolger trüben, ihre Flucht verdecken und ihre Spuren schwer erkennbar machen. Doch er schien im anbrechenden Morgen schon zu schwinden. Sie mussten ihn nutzen, solange er da war.
Angestrengt sah sie sich um. Der See war von Bäumen verdeckt. Es war unmöglich zu sehen, ob sie verfolgt wurde oder nicht. Die Felsen vor ihnen wiesen tiefe Risse und Spalten auf. Diese Gegend war ideal, um Verfolger abzuschütteln. Zumindest, wenn man sich auskannte, aber das tat Eula nicht. Sie wusste auch, dass sie Gefahr lief, in ein totes Ende ohne Ausweg zu geraten, oder sich selbst zu verirren und dabei kostbare Zeit zu verlieren. Trotzdem scheuchte sie die beiden wortlos in den größten Spalt hinein. Der Spalt machte nach wenigen Schritten einen Knick. Die grauen Felswände schlossen sich über ihnen zusammen. Doch nach hundert Schritten öffneten sich die Felsen über ihnen erneut. Weitere Gänge zweigten ab. Ein Labyrinth.
Merafine hatte Joshwa an der Hand. Der kleine Junge konnte kaum noch mithalten. Doch die junge Frau zerrte ihn mit sich, so gut sie konnte. Eula widerstand dem Drang, auf das Kind zu warten. Es würde sie bremsen. Joshwa musste sein Äußerstes geben. Er musste wie ein Bärenkind seiner unermüdlichen, starken Mutter folgen. Erschöpfung war besser als Tod oder Gefangenschaft. So behielt sie ihren strammen Schritt bei, achtete jedoch darauf, dass der Abstand nicht zu groß wurde.
Das Gelände stieg weiter langsam an. Im Nebel vor ihnen erschien eine graue Felswand. Zur Linken sah Eula den Wald. Dunkle Tannen rauschten im aufkommenden Wind. Wind verwehte Geruchsspuren, würde aber auch den schützenden Nebel fortwehen. Eula entschied sich, sich nach rechts zu wenden und weiter in das Felsenlabyrinth einzudringen. Weitere Spalten zweigten zu beiden Seiten von ihrer ab. War dort ein Höhleneingang? Nein. Man könnte die Spalten weiter entlanglaufen, dachte Eula. Sie blickte den Felsen hinauf. Oder hier hinaufklettern? Doch es war steil. Die Spitze des Felsens verlor sich im Nebel. Vielleicht zu anstrengend für den kleine Joshwa? Nein er war ein guter Kletterer. Das wusste sie. Eula hatte Angst, die beiden jungen Menschen aus den Augen zu verlieren, sie verlangsamte ihren schnellen Schritt.
Dann traf sie eine Entscheidung. »Merafine! Lauf den Gang entlang.« Sie deutete nach rechts. Die junge Frau sah sie entsetzt an. »Nur hundert Fuß. Schau, was hinter der Biegung ist, mache ein paar Spuren, dann kommst du zurück.« Merafine ging zögerlich los. »Joshwa! Du bleibst hier stehen und passt auf die Sachen auf. Ich sehe mir den Felsen dort oben an.« Ihre Habseligkeiten bedurften keinerlei Aufsicht, dennoch wollte sie Joshwa das Gefühl geben, dass er eine Aufgabe erfüllte.
Eula packte mit beiden Händen den Fels und zog sich hinauf. Der Felsen waren porös und trotz der Feuchtigkeit gut zu greifen. Sie kletterte ein Stück hinauf, bis der Nebel sie verschluckte. Oben fand sie sich auf einem Plateau wieder. Man konnte hier laufen, ohne klettern zu müssen. Doch sie wusste nicht für wie weit, denn der Nebel versagte ihr die Voraussicht.
In Windeseile kletterte sie wieder hinab. Wo war Merafine? Sie traute sich nicht zu rufen. Schließlich lief sie selber die Felsspalte entlang. Hinter einem Knick kam Merafine ihr entgegen. Eula atmete erleichtert auf. »Schnell jetzt Mädchen!« Sie eilten zurück zu Joshwa. Eula zeigte nach oben. »Wir müssen da hinauf. Merafine, du musst zuerst gehen.« Merafine sah ängstlich hinauf und begann zögerlich den Felsen hinaufzuklettern. Joshwa folgte ihr auf dem Fuß.
Als sie beide ein Stück weit hochgeklettert waren, kaum drei Manneslängen, merkte Eula, dass Merafine Probleme hatte. Sie hatte es geahnt. Merafine hatte Angst vor Höhen. Als sie an dem Seil in den Schacht hinabgeglitten waren, hatte sie gezögert, doch aufgrund des Feuers keinerlei Wahl gehabt, außerdem hatte sie nicht sehen können, wie tief der Schacht war. Doch auf dem steilen Bergpfad in die Schlucht hatte sie Angst gehabt.
»Sieh nicht nach unten«, rief Eula ihr leise zu. »Atme tief. Atme und klettere und schau nur nach oben« Es war Joshwa, der seiner Freundin den nötigen Halt gab. Er war dicht hinter Merafine und gab ihr gezielt Anweisungen, wie und wo sie mit ihren Händen greifen und mit ihren Füßen Halt finden konnte. Für sein Alter war er ein ausgezeichneter Kletterer. Er würde später ein guter Krieger im Orden der Awash abgeben, dachte Eula. Das Mädchen folgte den Anweisungen des Jungen und schließlich stellte Eula erleichtert fest, dass Merafine es schaffen würde. Sie war schon fast oben, während ihr Joshwa dicht auf den Fersen war.
Eula packte die beiden Bündel und schulterte sie mit einem Schwung. Gerade wollte sie den beiden, die schon fast im Nebel verschwunden waren, hinterher klettern, da stand der Hund vor ihr. Er war dunkelgrau, fast schwarz. Er war nicht sehr groß, aber kompakt gebaut und gut bemuskelt. Ein Spürhund dieses Volkes mit den Bögen und Tüchern um den Kopf. Samneten hatte Miraciel sie genannt. Sie sah hinauf. Joshwa blickte herunter. Seine braunen Augen weiteten sich. »Geh!«, befahl sie streng. Dann wandte sie sich dem Hund zu. Er stand da. Seine Nase zuckte. Er nahm Witterung auf. Er war angespannt wie zum Sprung. Vermutlich würde es nur Augenblicke dauern und Reiter würden hinter ihm in dem Felsengang erscheinen. Dann war alles verloren. Merafine würde das Kind nicht alleine beschützen können. Ihre Verfolger durften nicht erfahren, dass sie hier hochgeklettert waren.
Der Hund war vorsichtig. Ein Spürhund, kein todesmutiger Saupacker, der sich ohne Zögern in den Kampf stürzte. Eula tastete nach ihrem Messer. Der Hund bemerkte die Bewegung. Er hob den Kopf und ließ ein Bellen verlauten, das in einem langen Heulton endete und überlaut zwischen den Felswänden widerhallte. Er rief Verstärkung. Plötzlich wandte sich Eula um. Sie lief in den linken Gang hinein. Der Hund spannte sofort seine Muskeln. Die alte Frau mühte sich so schnell zu laufen, wie es ging. Doch sie wirkte fahrig. Es war kaum zu sehen, doch mit dem rechten Fuß hinkte sie, auch wenn sie nach wie vor schnellen Fußes war. Doch sie kam nicht weit. Sie hörte, wie der Hund unnachgiebig von seinen Jagdinstinkten gezogen, hinter ihr her spurtete. Eula verdoppelte ihre Anstrengung, rannte so schnell sie konnte, doch ihr Bein behinderte sie und dann stolperte sie und fiel der Länge nach hin.
Und dann spürte sie es. Sie spürte, wie es ihren Körper durchflutete. Die dunkle Seele ergriff von ihr Besitz. Es war keine Verletzung, die sie plagte und humpeln lies. Keine Dummheit oder Panik, die sie vor einem viel schnelleren Tier davonlaufen ließ. Es war Teil ihres Planes, um diese Kreatur zu überlisten. Das Messer hatte sie bereits gezogen. Sie drehte sich im Fallen um, hielt schützend den linken Arm hoch und rammte dem heranstürmenden Hund das Messer in die Rippen. Der Hund biss ihr durch die Wolltunika in den Arm, bevor er jaulend wieder losließ, als ihn das Messer traf. Er wollte davonrennen. Doch Eula packte ihn am Nacken, drückte ihn zu Boden und tötete ihn mit einem platzierten Stich in den Hals.
Schmerzerfüllt sank sie zusammen. Die dunkle Seele wich von ihr. Zitternd strich sie dem Hund über sein Fell. »Ich bedaure, dass wir Feinde sein mussten«, murmelte sie in der Sprache der Muún. Dann wandte sie sich ab und spähte den Gang entlang. Sie raffte sie sich auf. Ihren verletzten Arm würdigte sie keines Blickes. Sie wollte nicht wissen, wie schlimm der Biss war. Das Wissen würde sie nur beeinträchtigen. Sie eilte zurück zu der Stelle, wo Merafine und das Kind emporgeklettert waren. Dort begann sie erneut den Felsen zu erklimmen. Der Hundebiss an ihrem Arm schmerzte, doch Eula konzentrierte sich auf ihre Hände und den Felsen. Sie spürte, dass die Feinde dicht waren, spürte das dumpfe Auftreten von Pferdehufen unter sich. Augenblicke später war ihr kleiner Körper wieder von Nebel umschlossen. Genau in dem Moment stampfte ein Pferd durch den Felsspalt. Wenig später gefolgt von drei weiteren Pferden, gelenkt durch den Druck von Schlamm verschmierter Reiterstiefel. Unter schwarzen Mänteln blitzten Schuppenpanzer, Sporen und Schwerter. Auf der Brust des einen Reiters prangte ein grauer Reiher auf gelbem Grund.
Die Reiter schritten unter der Stelle hindurch, wo Eula Augenblicke vorher im Nebel verschwunden war. Ihre Aufmerksamkeit war auf etwas Dunkles gerichtet, das im Gang lag. Vor dem toten Hund blieben die Pferde stehen. Die Augen des Anführers funkelten erregt beim Anblick des toten Tieres, an dem sein Pferd misstrauisch schnüffelte. Der junge Mann mit dem Reiherwappen lächelte. Er wusste nun, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, beiden Spuren zu folgen.

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